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Der Kunde der betrieblichen Mitbestimmung – § 2 BetrVG

Ein neuer Blick auf § 2 BetrVG

Wer § 2 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes aufmerksam liest, stößt auf einen unscheinbaren, fast beiläufigen Satz: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten […] zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen.“ In der täglichen Praxis wird dieser Passus häufig als freundlicher Verhaltenskodex abgetan – eine Aufforderung, einander im Ton höflich zu begegnen. Doch hinter dem knappen Wortlaut verbirgt sich ein radikaler Perspektivwechsel. Der Gesetzgeber verlangt nämlich, dass Arbeitgeber und Betriebsrat nicht primär im eigenen Interesse handeln, sondern im Interesse eines „Dritten“, den man in einer modernen Lesart als Kunden der betrieblichen Mitbestimmung bezeichnen kann.

Wer ist dieser Kunde – und warum wird er so selten benannt?

Stellen wir uns eine Münze vor, deren zwei Seiten untrennbar miteinander verbunden sind: Auf der einen Seite steht das Geschäftsmodell des Unternehmens – also die Art und Weise, wie es Wert schöpft und Gewinne erzielt. Auf der anderen Seite befinden sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Können, Kreativität und Loyalität den Geschäftserfolg überhaupt erst ermöglichen. Wendet man die Münze, kommt stets wieder beide Seiten zugleich zum Vorschein; keine Seite kann für sich allein bestehen.

Genau dieses bipolare Konstrukt – Geschäftsmodell plus Belegschaft – ist der eigentliche Kunde, den § 2 BetrVG im Blick hat. Viele Beteiligte merken gar nicht, dass sie mit jeder Betriebsvereinbarung, jeder Restrukturierung und jeder Arbeitszeitanpassung in Wahrheit einen Dienst an dieser zweiköpfigen Größe leisten. Die Folge ist eine gefährliche Verkürzung: Arbeitgeber fokussieren sich reflexhaft auf Kennzahlen, Kosteneffizienz und Marktanforderungen, während Betriebsräte ebenso reflexhaft Löhne, Arbeitszeitmodelle und Beschäftigungssicherung in den Vordergrund rücken. Beides ist legitim – aber unvollständig. Der Kunde braucht beides gleichzeitig: ein robustes Geschäftsmodell und würdige Arbeitsbedingungen.

Warum keiner allein Deutungshoheit besitzt

Das Besondere an der deutschen Mitbestimmung ist, dass sie die Machtbalance institutionell verankert hat. Kein Akteur darf einseitig bestimmen, was der gemeinsame Kunde angeblich will. Während der Arbeitgeber tiefe Einblicke in Marktmechanismen, Kostenstrukturen und strategische Planungen besitzt, kennt der Betriebsrat die Stimmung, die Kompetenzen und die Belastungsgrenzen der Belegschaft. Beide Perspektiven sind jeweils notwendig, aber für sich genommen unzureichend.

Dabei gilt: Auch der Arbeitgeber hat ein genuines Interesse daran, dass die Beschäftigten zufriedene, gesunde und engagierte Mitarbeitende bleiben, denn nur so kann das Geschäftsmodell auf Dauer Wert schöpfen. Gleichzeitig benötigt der Betriebsrat seinerseits ein Grundverständnis für Marktlogik, finanzielle Zusammenhänge und technologische Trends – nur dann kann er die Belegschaft wirksam vertreten und zugleich tragfähige Lösungen für das Unternehmen unterstützen. Kurz: Jede Seite ist gut beraten, über den eigenen Tellerrand hinaus die Perspektive bzw. Agenda der anderen Seite mitzudenken.

Erst in einem Zusammenarbeitsmodell, das von gegenseitigen Prinzipien, struktureller Transparenz und klar vereinbarten Verfahren geprägt ist, entsteht ein vollständiges Bild des Kundeninteresses. Dieses Modell verlangt mehr als den guten Willen, „sich zu einigen“. Es verlangt eine methodische Kooperation, in der Daten geteilt, Prämissen offengelegt und Zielkonflikte explizit benannt werden. Wo das nicht geschieht, entsteht leicht die Illusion, eine Seite könne allein entscheiden, was gut für das Unternehmen oder die Belegschaft sei. In Wahrheit führt jede einseitige Überbetonung zum selben Endpunkt: dem potenziellen Zerfall des gesamten Unternehmensverbundes aus Geschäftsmodell und Menschen.

Was geschieht, wenn das Gleichgewicht kippt?

Werden betriebliche Entscheidungen ausschließlich am Shareholder Value, an kurzfristigen Kostenkennzahlen oder an Quartalszielen ausgerichtet, droht eine chronische Überlastung der Belegschaft. Die Folgen sind bekannt: steigende Fehlzeiten, wachsende Fluktuation, Reputationsschäden am Arbeitsmarkt und am Ende ein Innovationsdefizit. Ironischerweise wird damit genau das Geschäftsmodell geschwächt, das man eigentlich schützen wollte.

Umgekehrt gefährdet eine einseitige Maximierung sozialer Standards ohne Rücksicht auf Wirtschaftlichkeit die Wettbewerbsfähigkeit. Steigen Personalkosten und Prozesslaufzeiten schneller als Produktivität und Marktpreise, erodiert die Profitabilität. Wird dieser Trend nicht gebremst, schrumpfen Investitionsspielräume und damit mittelfristig die Zahl der Arbeitsplätze – ein Pyrrhussieg für diejenigen, die im Namen der Arbeitnehmer vermeintlich „gewonnen“ haben.

Der Kunde als Kompass – nicht als Verhandlungsmasse

Versteht man den Kunden der Mitbestimmung als verbindlichen gemeinsamen Bezugspunkt, verändert sich der Charakter jeder Verhandlung. Nicht der „Durchmarsch“ einer Partei, sondern das nachweisliche Mehr an Kundennutzen wird zum Legitimitätsmaßstab. Ein Arbeitgeber, der den Betriebsrat nur informiert, statt ihn einzubinden, wird sich ebenso rechtfertigen müssen wie ein Betriebsrat, der Modernisierungsprojekte blockiert, ohne eine wirtschaftlich tragfähige Alternative anbieten zu können.

Dieser Kompass entschärft nicht jeden Konflikt, aber er verhindert, dass sich das System erschöpft. Denn wer argumentiert, muss zeigen, wie das Geschäftsmodell gestärkt und wie gleichzeitig die Interessen der Arbeitnehmer gewahrt werden. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist der Vorschlag per definitionem unzureichend.

Fazit

Der unscheinbare Satz in § 2 BetrVG lädt zu einem mentalen Rollenwechsel ein: Arbeitgeber und Betriebsrat sind weniger Kontrahenten als vielmehr Treuhänder eines gemeinsamen Kunden. Dieses Mandat verpflichtet, die Perspektive des jeweils anderen nachvollziehen zu wollen, Informationen zu teilen und Entscheidungen an transparenten Prinzipien auszurichten. Wer es annimmt, verschiebt den Fokus von Machtarithmetik auf geteilte Wertschöpfung.

So entsteht ein fortschrittliches Governance-Modell, das ökonomische Robustheit und menschenwürdige Arbeit nicht als Gegensätze, sondern als zwei Seiten derselben Medaille behandelt. In Zeiten disruptiver Märkte, steigender Fachkräfteknappheit und wachsender gesellschaftlicher Erwartungen wird dieser Anspruch zunehmend zur Überlebensbedingung. Der Kunde der betrieblichen Mitbestimmung wartet nicht geduldig – er belohnt jene, die ihn ernst nehmen, und straft jene, die ihn ignorieren. Die Wahl liegt bei den Akteuren selbst.

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